Der Betriebsarzt wird zukünftig seine arbeitsmedizinische Kompetenz bedarfsgerecht in das betriebliche Gesundheitsmanagement einbringen und hauptsächlich mit dem Ziel beratend tätig werden, die Erwerbsfähigkeit bei den Erwerbspersonen zu fördern und zu erhalten. In dem folgenden Artikel, der in der Zeitschrift "Arbeitsmedizin Sozialmedizin Umweltmedizin" erschienen ist, sind einige meiner frühen Gedanken zu diesem Themenbereich dargelegt:

Manuskript zu einem Diskussionsbeitrag, erschienen in:
Arbeitsmedizin Sozialmedizin Umweltmedizin 35 , 6 , 2000 , 282 - 289

Betrieblicher Gesundheits- und Arbeitsschutz
Vom „push" zum „pull"  - Eine kritische Analyse

 J. M. Jancik

Gespräche zur Standortbestimmungen mit betriebsärztlich tätigen Kollegen, Fachkräften für Arbeitssicherheit, Arbeitgebern und Betriebsräten und eigene Recherchen haben zu meiner Einschätzung der Situation im betrieblichen Gesundheits- und Arbeitsschutz und den Gedanken zu möglichen Veränderungen geführt. Die unübersichtliche Situation und die von den Gesprächspartnern sehr differenziert und teilweise konträr geäußerten Meinungsbilder waren meine Motivation zu diesem Text; mein Ziel war und ist es weiterhin, meinen eigenen Standpunkt zu finden. So wie ärztliche Diagnostik zumeist nicht entlang vorgegebener Leitlinien verläuft, sondern eher sprunghaft und durch Assoziation erfolgt, so sind die hier dargelegten Gedanken innerhalb der letzten Jahre entstanden und gewachsen; dieser Text ist der Versuch dies zu ordnen und soll dementsprechend Diskussionsgrundlage sein und nicht eine festgefügtes Meinungsbild wiedergeben; einige Gedanken sind ausformuliert, andere aber nur als Gerüst vorhanden und pointierte Überzeichnungen sind gewollt; Anregungen und Kritik sind willkommen.
 
Ziele im betrieblichen Gesundheits- und Arbeitsschutz

Jegliche berufliche Tätigkeit ist mit mehr oder weniger kalkulierbaren Risiken für die körperliche und seelische Unversehrtheit behaftet. Entsprechend den stark unterschiedlichen sozialen Notwendigkeiten, den persönlichen Zielen in der Lebensplanung und dem individuellen Wertegefüge werden diese Risiken von den Menschen, auch in Abhängigkeit vom Lebensalter, unterschiedlich eingeschätzt und bewertet. Betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten und die damit verbundene Ausrichtung auf das wirtschaftliche Ergebnis führen auf Seiten der Arbeitgeber häufig zu anderen Einschätzungen und Bewertungen dieser Risiken als bei den betroffenen Arbeitnehmern. Es ist deswegen selbstverständlich, dass es in diesem Spannungsfeld überwachungsbedürftige Normen geben muß. Die Ausgestaltung und die Überwachung bzw. Durchsetzung dieser Normen kann in sehr unterschiedlicher Weise erfolgen und ist auch kontinuierlich einem Wandel unterzogen.
 
Der Schutz von Leben und Gesundheit der Arbeitnehmer hat durch das Grundgesetz eine verfassungsrechtliche Grundlage und ist in verschiedenen Gesetzen u.a. im Sozialgesetzbuch, Arbeitsschutzgesetz und Arbeitssicherheitsgesetz und der Berufskrankheitenverordnung weiter spezifiziert. Der betriebliche Gesundheits- und Arbeitschutz liegt entsprechend den gesetzlichen Regelungen im Verantwortungsbereich der Betriebsleitungen; die Mitarbeitervertretungen wirken entsprechend den gesetzlichen Regelungen mit. Beide Seiten sollen durch Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit sachkundig beraten werden.

Die zentrale Aufgabe in diesem Bereich ist der Schutz der einzelnen Arbeitnehmer vor berufsbedingten Gesundheitsgefahren durch entsprechende Gestaltung der Arbeitsplätze, des Arbeitsumfeldes und der Arbeitsverfahren einerseits und einer dem individuellen Leistungsbild angepassten Übertragung von Arbeitsaufgaben andererseits. Hinsichtlich der auf die Arbeitnehmer einwirkenden Belastungen sind die entsprechenden Grenzwerte, Normen, Vorschriften und wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse zu beachten. Die Beanspruchung des Einzelnen am Arbeitsplatz, auch durch norm- und vorschriftengerechte Belastungen bzw. durch Einwirkungen innerhalb vorgegebener Grenzwerte, ist abhängig von dem individuellen Leistungsbild. Bei einem Ungleichgewicht zwischen Belastung bzw. Einwirkung und den individuellen Leistungsbildern kann eine gesundheitsgefährdende Beanspruchung resultieren. Entsprechend dem Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen können derartige berufsbedingte Gesundheitsgefahren nur durch individuelle Beratungen minimiert werden.

Durch den betrieblichen Gesundheitsschutz soll gewährleistet werden, dass Arbeitnehmer über das normale Arbeitsleben hinweg durch die individuellen und allgemeinen beruflichen Belastungen (Einwirkungen) nur in dem Maß beansprucht werden, in dem berufsbedingte Erkrankungen oder Gesundheitsstörungen und damit gegebenenfalls vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsleben vermieden werden. Ziel ist es, den Arbeitnehmern über die verschiedenen Zeitachsen hinweg bis zum Eintritt in das Rentenalter zu allen Zeiten die Möglichkeit zu geben, ihre Leistungsfähigkeit und ihren Leistungswillen mit dem bestmöglichen Wirkungsgrad in Leistung umsetzen zu können, ohne dass die Gesundheit beeinträchtigt oder gefährdet wird.

An dieser Schnittstelle setzt die betriebsärztliche und sicherheitstechnische Beratung ein; dort, wo individuelle Leistungsbilder oder im Allgemeinen die Natur des Menschen mit beruflichen Belastungen oder Anforderungen abzugleichen sind, ist arbeitsmedizinischer Sachverstand einzubringen. Dort, wo die Gefährdungen für die körperliche Unversehrtheit der Arbeitnehmer unmittelbar von der technischen Ausgestaltung von Arbeitsumfeld, Arbeitsplätzen und Arbeitsmitteln beeinflusst wird, ist sicherheitstechnischer Sachverstand notwendig.

Nachhaltige Sicherung und Förderung der Leistungsfähigkeit einer Belegschaft und Schutz des Einzelnen vor berufsbedingten Gesundheitsgefahren bedingen sich gegenseitig und sind nicht von einander zu trennen. Deswegen ist die Gesundheitsförderung mit dem Ziel, die persönlichen Ressourcen der Mitarbeiter zu sichern bzw. zu entwickeln, integraler Bestandteil des betrieblichen Gesundheitsschutzes.

Vom „push" zum „pull"

Neben dem staatlichen Arbeitsschutz in Form der staatlichen Gewerbeaufsicht besteht in der Bundesrepublik Deutschland das System der gesetzlichen Unfallversicherungen. Die gesetzlichen Unfallversicherungen haben einerseits die Aufgabe, Heilbehandlung mit Rehabilitation und die soziale Absicherung geschädigter Arbeitnehmer sicherzustellen; andererseits haben sie auch die Aufgabe, in der Unfallverhütung bzw. in der Verhütung von Berufskrankheiten bzw. berufsbedingten Erkrankungen tätig zu werden. Hier sind bzw. waren Überschneidungen mit dem staatlichen Arbeitsschutz und den Krankenkassen vorhanden. Die Kosten der gesetzlichen Unfallversicherung werden entsprechend den Satzungen der einzelnen Träger auf die Arbeitgeber nach unterschiedlichen Schlüsseln umgelegt; die durchschnittliche Höhe der Umlage lag bei den gewerblichen Berufgenossenschaften im Jahr 1997 bei 1,4% der jeweiligen Lohnsumme.

Zum Arbeitsschutz gibt es sowohl auf der Seite des staatlichen Arbeitsschutzes als auch auf der Seite der gesetzlichen Unfallversicherungen umfangreiche und teilweise akribisch bis zur letzten Eventualität hin ausgearbeitete Vorschriften. Das System ist bisher von der Vorstellung geprägt, dass der Gesundheits- und Arbeitsschutz von außen in die Betriebe hereingetragen oder diesen teilweise auch aufgezwungen werden muß, um Leib und Leben der arbeitenden Menschen bestmöglich zu schützen. Durch die Präsenz der Aufsichtspersonen von Gewerbeaufsicht und gesetzlicher Unfallversicherung sowie der Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit wurden in der Vergangenheit ausreichend Impulse hin zu einer Verbesserung der Situation im betrieblichen Gesundheits- und Arbeitschutz gegeben; entsprechend der Begriffsbildung im Marketing kann dies als „push-Prinzip" für den betrieblichen Gesundheits- und Arbeitsschutz bezeichnet werden.

Der äußere Druck hinsichtlich des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes wurde in der Vergangenheit durch die staatliche Gewerbeaufsicht (preußisch: Gewerbepolizei) und den Technischen Aufsichtsdienst der gesetzlichen Unfallversicherungen realisiert. Regelmäßige Kontrollen waren üblich und der Katalog von möglichen Sanktionsmaßnahmen wurde erkennbar angewandt; der Aufsichtsbeamte am Firmentor verursachte Aufregung bis hin zur Unternehmensleitung. Die Vollzugspraxis bzw. die Durchsetzungsstrategie war zur Stimulierung der betrieblichen Maßnahmen zum Gesundheit- und Arbeitsschutz ausreichend wirksam.

Bedingt durch organisatorische Änderungen und die Übernahme zusätzlicher Aufgaben ist das, was früher als Gewerbeaufsicht bekannt war, in unterschiedlichen Strukturen verschwunden. Entsprechend dem föderalen Aufbau Deutschlands und der Zuständigkeit der Länder für den Vollzug des staatlichen Arbeitsschutzes finden sich mittlerweile erhebliche Unterschiede in der Ausstattung der zuständigen Ämter. Bei der personellen Ausstattung mit Gewerbeaufsichtsbeamten bzw. Gewerbeärzten sind Unterschiede im Verhältnis von 1:4 bzw. 1:10, jeweils bezogen auf die Zahl der Erwerbstätigen in den einzelnen Bundesländern, erkennbar. Auch die Vollzugspraxis erscheint bei einem Vergleich der dokumentierten Aktivitäten extrem unterschiedlich.

Der deutliche Unterschied zwischen den einzelnen Bundesländern in der Besetzung der Gewerbeaufsicht kann nicht nur durch die Struktur der jeweilig vorherrschenden Gewerbezweige bedingt sein; hier ist die unterschiedliche politische Willensbildung hinsichtlich einer effektiven Kontrolle in den Betrieben sicher die entscheidende Einflussgröße. Die Kontrollen in den Betrieben erscheinen in einigen Bundesländern nicht mehr zeitgemäß und dann dort auch politisch nicht mehr erwünscht. In den entsprechenden Ämtern ist der technische Arbeitsschutz nicht mehr zentraler Bereich, vorrangige Aufgabe ist oder war entsprechend dem jeweiligen Zeitgeist der Umweltschutz, Strahlenschutz oder auch die Kontrolle kerntechnischer Anlagen. Kontrollierende Gewerbeaufsichtsbeamte sind in den Betrieben kaum noch anzutreffen und der Begriff „Gewerbepolizei" ist schon seit langem nicht mehr treffend. In dem neuen Arbeitsschutzgesetz sind schon Regelungen vorgesehen, um die Kontrolltätigkeit der Gewerbeaufsicht den Berufsgenossenschaften übertragen zu können.

Die für den medizinischen Arbeitschutz zuständigen Gewerbeärzte mußten sich teilweise schon aus ihrer gesetzlich vorgesehenen Beteiligung am Berufskrankheitenverfahren verabschieden. Die unmittelbare Information über das Geschehen bei den Berufskrankheiten gelangt jetzt nur noch eingeschränkt bis zu ihnen und für die erkrankten Arbeitnehmer entfällt teilweise die zusätzliche fachkompetente Beurteilung bzw. Begutachtung ihrer Erkrankung.

Entsprechend der Kernaussage der 73. Konferenz der Arbeits- und Sozialminister ist die Einzelfallüberwachung ineffizient und soll zukünftig durch eine Systemüberwachung (Kontrolle des Arbeitsschutzmanagementsystems) abgelöst werden. Die politischen Entscheidungsträger haben sich demnach schon offiziell von den herkömmlichen Aufgaben im staatlichen Arbeitsschutz verabschiedet und konzipieren jetzt zukünftige, anders geartete Systeme; die schutzwürdigen Interessen der gegenwärtig berufstätigen Menschen werden dabei aber übersehen.

Die Technischen Aufsichtspersonen (früher: Aufsichtsbeamte) der Berufsgenossenschaften sind häufig mit Ermittlungen in Berufskrankheitenverfahren oder mit Schulungen beschäftigt. Die Ermittlungen in den Berufskrankheitenverfahren betreffen auch häufig Betriebsanlagen und Arbeitsverfahren von eher historischem Wert; die dabei gewonnenen Einsichten in die Betriebe sind somit für die aktuelle Prävention weniger wertvoll. Zu einer flächendeckenden Revision sind die Aufsichtspersonen der gesetzlichen Unfallversicherungen schon allein zahlenmäßig nicht in der Lage und in ihrem Selbstverständnis tendieren sie mittlerweile mehr zu Beratungs- als zu Kontrolltätigkeiten. Aus verschiedenen gesetzlichen Unfallversicherungen sind auch schon Überlegungen bekannt geworden, nach denen diese sich auch aus der Einzelfallüberwachung zurückziehen wollen und hin zur Systemüberwachung bzw. Beratung tendieren.

Hinsichtlich der ordnungsgemäßen betriebsärztlichen oder sicherheitstechnischen Betreuung der Betriebe wird in der Regel nicht kontrolliert; selbst bei offensichtlichen Verstößen gegen bestehende Unfallverhütungsvorschriften in diesem Bereich wird im Allgemeinen nicht mit Durchsetzungsmaßnahmen reagiert. Aufsichtspersonen aus dem Bereich der öffentlichen Unfallkassen sagen offen, dass sie teilweise auch bei extremen Verstößen gegen diese Vorschriften keine Möglichkeit sehen, Durchsetzungsmaßnahmen durch die eigenen Unfallkassen zu realisieren. Offen erkennbar war dies z.B. an den teilweise extremen Unterschieden in der Personalausstattung betriebsärztlicher Dienste im Vergleich zu den Anforderungen in gültigen Unfallverhütungsvorschriften.

Ärzte, die arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen durchführen, müssen entsprechend den einschlägigen Regelungen hierfür von den Berufgenossenschaften in Abstimmung mit oder auch von den entsprechenden staatlichen Institutionen ermächtigt werden. Bei einem Vergleich des hierfür aufgebauten Verwaltungsapparates und der für die Ermächtigungen geforderten umfangreichen Dokumentation und Berichtspflichten mit dem Aufwand für Kontrollen, ob vorgeschriebene Untersuchungen auch wirklich und dann auch nur von ermächtigten Ärzten durchgeführt werden, fällt ein erhebliches Ungleichgewicht auf. Es ist augenfällig, dass Reglementierungen und Kontrollen bei den Betriebsärzten, also im sekundären Bereich, wirksamer verfolgt werden als in den Betrieben, wo die Unfälle und Berufskrankheiten ihre wahre Ursache haben.
 

Mit dem weitgehend effektiven Ausfall der staatlichen und berufsgenossenschaftlichen Kontrollinstanzen einhergehend wurden deren Aufgaben in Form von motivierender Beratung teilweise von den innerbetrieblichen Fachleuten (Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Betriebsärzte) übernommen. Diese haben in der Vergangenheit auf die Umsetzung bestehender staatlicher und berufsgenossenschaftlicher Vorschriften hingewirkt, mußten dabei aber zunehmend erleben, dass deren Einhaltung von den entsprechenden Aufsichtsinstitutionen weder kontrolliert noch eingefordert wird. Hinsichtlich der Akzeptanz der Betriebsärzte und der Fachkräfte für Arbeitssicherheit war dies eine fatale Entwicklung; die Folge war nämlich, dass diese Berater zunehmend gedanklich mit Aufsichtsinstitutionen assoziiert wurden. Das falsche Bild, dass die Aufgabe der Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit überwiegend in der Suche nach Defiziten bei der Umsetzung staatlicher und berufgenossenschaftlicher Vorschriften bestehe, wurde hierdurch gefördert. Die daraus folgende zunehmende Ablehnung dieser Berater hatte damit auch eine zunehmende Ablehnung anderer Beratungsinhalte zur Folge; zur Festigung der eigenen Position haben Betriebsärzte und Sicherheitsfachkräfte dann die Beratung zur Durchsetzung staatlicher und berufsgenossenschaftlicher Vorschriften zunehmend in den Hintergrund ihrer Tätigkeit gestellt.

Bedingt durch die Veränderungen in den letzten 20 Jahren im Bereich der Technologie, der Arbeitsorganisation und der Struktur der Wirtschaft haben die direkt und unmittelbar erkennbaren Gefahren am Arbeitsplatz deutlich abgenommen. Diese Entwicklung wurde nicht zuletzt dadurch verstärkt, dass Arbeitsplätze mit erhöhter Unfall- bzw. Gesundheitsgefährdung in Schwellenländer „exportiert" wurden. Mit der Abnahme der körperlichen Arbeit, auch im Bereich der industriellen Fertigung, hat naturgemäß die Häufigkeit und die Schwere der Arbeitsunfälle abgenommen. Berufsbedingte Gesundheitsstörungen bzw. Erkrankungen sind nur noch selten als akute Erkrankungen zu beobachten; diese werden zunehmend erst mit einer deutlichen zeitlichen Verzögerung erkennbar. Herausragende Beispiele hierfür sind die asbeststaubbedingten Erkrankungen oder die beruflich verursachten Krebserkrankungen. Die Erkrankungen und die damit verbundenen persönlichen Leiden treten zumeist erst dann auf, wenn sie für die betrieblich Verantwortlichen nicht mehr beobachtbar sind.
 

Die durch arbeits- oder berufsbedingte Erkrankungen und Unfälle in den Unternehmen hervorgerufenen Kosten beschränken sich in der Regel auf den Beitrag zur gesetzlichen Unfallversicherung; diese Beitragszahlungen spiegeln aber nur das Geschehen der jeweils jüngeren Vergangenheit wider und sind in ihrer Höhe nur in geringem Umfang auf das aktuelle Geschehen in den einzelnen Unternehmen bezogen; im Bereich der öffentlichen Hand fehlt dieser Bezug zur Zeit völlig. Investitionen mit dem Ziel einer Verbesserung des Gesundheits- und Arbeitsschutzes entsprechen somit vordergründig nicht dem Ziel einer absehbar erkennbaren Verbesserung der Ertragssituation in den Unternehmen.

Bei Berufskrankheiten oder Arbeitsunfällen sind im Schadensfall für die Unternehmen oder ihre Führungskräfte negative Folgen nicht direkt erkennbar. Schadensereignisse wie Arbeitsunfälle oder Berufkrankheiten führen, wenn überhaupt, nur zu relativ geringen Anhebungen der jeweiligen Umlagen bzw. Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung. Malus- oder Bonusregelungen im Zusammenhang mit den Umlagen der Unfallversicherungen sind in der Regel in einer Größenordnung unterhalb der Schwankungsbreite bei der Lohnfortzahlung. Ein Versicherungsfall (Arbeitsunfall) mit tödlichem Ausgang kostet das Unternehmen zum Beispiel bei einer der gesetzlichen Unfallversicherungen nur 1.500,00 DM zusätzlich zur jährlichen Umlage. Die in den Betrieben hinsichtlich des Gesundheits- und Arbeitsschutzes vorherrschende Denkart wird auch als „Vollkaskomentalität (mit gelegentlich geringer Selbstbeteiligung)" beschrieben.

Entsprechend den Regelungen in der Sozialgesetzgebung haben im Falle einer Berufskrankheit oder eines Arbeitsunfalles der Arbeitnehmer oder seine Hinterbliebenen nur Ansprüche gegenüber der gesetzlichen Unfallversicherung und nicht gegenüber dem Arbeitgeber (Haftungsprivileg der Berufsgenossenschaften). Durch die gesetzliche Unfallversicherung wird im Falle einer Erwerbsminderung durch Arbeitsunfall oder Berufskrankheit die soziale Absicherung garantiert. Weitere Ansprüche zum Ausgleich materieller oder immaterieller Schäden können die erkrankten oder verunfallten Arbeitnehmer nicht geltend machen. Dieses umfassende Haftungsprivileg war bei Bestehen einer wirksamen Aufsicht durch die staatlichen Institutionen (Gewerbeaufsicht) und die gesetzlichen Unfallversicherungen (Berufsgenossenschaften) berechtigt, weil diese Aufsicht einen funktionsfähigen Gesundheits- und Arbeitsschutz in den Unternehmen nach dem „push-Prinzip" sicherstellte. In früheren Zeiten waren ernsthafte Sanktionen bei Verstößen gegen Arbeitsschutzvorschriften keine Seltenheit. Das Drohen mit einer Betriebsstillegung hat häufig Wunder gewirkt.

In der Gegenwart fehlt ein effektiver äußerer Druck hinsichtlich wirksamer Maßnahmen zum betrieblichen Gesundheits- und Arbeitsschutz; es bleibt den Führungskräften in den Betrieben selbst überlassen, Art und Umfang und damit auch die Kosten für diesen Bereich zu bestimmen. Den effektiven Kosten steht nur ein geschätztes Risiko gegenüber und der Nutzen von Maßnahmen zum Gesundheitsschutz ist nur im Nachhinein feststellbar. Angesichts der Tatsache, dass Investitionen im praeventiven Bereich deswegen nur selten direkt erkennbare Kostenvorteile bieten, ist es nachvollziehbar, dass gegenwärtig in den Betrieben die Schwerpunkte häufig anders gesetzt werden.

Mittlerweile ist das theoretische, vorschriftengemäße Bild des Gesundheits- und Arbeitsschutzes häufig nur noch in Andeutungen und nur in einem Teil der Betriebe regelrecht realisiert. Im betrieblichen Bereich sind nicht nur fahrlässige Verstöße zu beobachten; in den letzten Jahren ist es zunehmend üblich geworden, Risiken hinsichtlich der Gefährdung für Leib und Leben der Mitarbeiter auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten. Bei der Risikoabschätzung hinsichtlich der Gesundheits- und Unfallgefahren am Arbeitsplatz und den dann daraus folgenden wirtschaftlichen Risiken ist das Verschließen der Augen, um augenfällige Gefährdungen nicht sehen zu müssen, eine Variante kostenbewusster Unternehmensführung geworden. Die zumeist älteren Führungskräfte mit noch intaktem Wertegefüge erscheinen in diesem System zunehmend als Auslaufmodell.

Augenfällig wird diese Einstellung hinsichtlich der Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer zum Beispiel auch bei dem Vergleich der Schnelligkeit, mit der Forderungen der Feuerversicherung gegenüber den gelegentlichen Anordnungen der Berufsgenossenschaften umgesetzt werden. Bei Feuerversicherungen wird angenommen, dass sie Gründe suchen, um Schäden nicht regulieren zu müssen; Berufgenossenschaften dagegen zahlen immer und passen danach die „Versicherungsprämie" nicht immer und wenn, dann auch zumeist nur unzureichend, dem jeweiligen Schadensverlauf an. Zunehmend ist auch zu beobachten, dass für Umweltmanagementsysteme mehrfach höhere Kosten akzeptiert und umfangreichere Ressourcen bereitgestellt werden, als für den Gesundheits- und Arbeitsschutz
In diesem Umfeld ist es gängige Praxis geworden, die betriebsärztliche und die sicherheitstechnische Betreuung überwiegend unter Kostengesichtspunkten zu betrachten. Losgelöst von einer Betrachtung der Effektivität der jeweiligen Strukturen des betrieblichen Gesundheits- und Arbeitsschutzes werden kostengünstigere Alternativen gesucht.

Der Ersatz gut wirksamer innerbetrieblicher oder auch externer betriebsärztlicher oder sicherheitstechnischer Dienstleister durch kostengünstigere (um nicht zu sagen: billigere) andere Anbieter bleibt in der Regel hinsichtlich der Folgen für die Gesundheit und des Unfallgeschehens bei den Mitarbeitern auf absehbare Zeit ohne erkennbare Folgen. Präventives Handeln ist auf Nachhaltigkeit angelegt und wirkt deswegen über die aktuelle Tätigkeit hinaus nach. Eine kompetente und zielgerichtete betriebsärztliche und sicherheitstechnische Betreuung führt in den Betrieben zu einer wachsenden Kompetenz aller am Gesundheits- und Arbeitsschutz beteiligten und macht sich damit zumindest teilweise mit der Zeit selbst überflüssig. Dem vollständigen Wegfall der Notwendigkeit zur Beratung durch die entsprechenden Fachleute steht aber die Lebendigkeit der Betriebe mit dem ständigen Wechsel der handelnden Personen, der Produkte und der Verfahren entgegen.

Der Austausch einer innerbetrieblichen oder auch langjährigen externen betriebsärztlichen oder sicherheitstechnischen Betreuung durch einen "Billiganbieter" bedeutet in der Regel auch einen Verzicht auf die Auswahlmöglichkeit hinsichtlich der Person der Berater. Diese Beratungsdienstleistungen sind in ihrer Qualität aber immer abhängig von der Qualifikation und Persönlichkeit des Beraters. Das persönliche Wertegefüge oder die politische Grundhaltung können neben der fachlichen Qualifikation die Wirksamkeit und die Inhalte der Beratung extrem beeinflussen. Es sollte einer jeden Führungsperson immer deutlich im Bewusstsein bleiben, dass diese Dienstleistungen immer von den handelnden Personen und nicht von den beauftragten Diensten erbracht wird. Der Verzicht auf die Mitwirkung bei der Auswahl der Person, die im Betrieb arbeitsmedizinisch oder sicherheitstechnisch beraten soll, gibt einen Hinweis auf den Stellenwert, den dieser Bereich bei der jeweiligen Führungskraft hat.
 
Entsprechend dem zunehmend als gering empfundenen Beratungsbedürfnis vieler Führungskräfte hat sich am Markt für die betriebsärztliche und sicherheitstechnische Beratungsdienstleistung ein Wandel abgezeichnet. Dienstleister, die bisher eine kompetente und verantwortungsbewusste Beratung bzw. Betreuung erbracht haben, geraten zunehmend in wirtschaftliche Schwierigkeiten, wenn sie nicht bereit sind, ihre ethischen Prinzipien zu verlassen. Zunehmend wurden und werden Angebote für diese Dienstleistung in der Art angefordert und auch abgegeben, dass Kapazität für diese Beratungen zum Abruf bereitgehalten wird. Ohne Abruf erfolgt dann auch keine Beratung. Den betrieblich Verantwortlichen bleibt es selbst überlassen, über den Beratungsbedarf zu entscheiden.

Es findet beim betrieblichen Gesundheits- und Arbeitsschutz, um im Sprachgebrauch des Marketing zu bleiben, ein Wandel vom „push-Prinzip" zum „pull-Prinzip" statt. Problematisch erscheint dies unter dem Aspekt, dass selbst das bewusste Verneinen eines offensichtlichen Beratungsbedarfes zur Zeit keiner Sanktion unterliegt. Zur Wirksamkeit eines „pull-Prinzips" im Bereich des betrieblichen Gesundheits- und Arbeitsschutzes fehlen entscheidende Anreize für die Führungskräfte, damit sie nachhaltig diesem die notwendige Präferenz geben und dann auch dementsprechend angemessene Beratung suchen. Die zur Zeit vorherrschende „Marketing-Strategie" zur Durchsetzung eines wirksamen betrieblichen Gesundheits- und Arbeitsschutzes ist nicht ausreichend wirksam.

Im Zusammenhang mit der jetzt anstehenden Ausweitung der Verpflichtung zur betriebsärztlichen und sicherheitstechnischen Betreuung auf alle Betriebe, soweit sie Arbeitnehmer beschäftigen, sind bei einigen Berufgenossenschaften sogenannte Unternehmermodelle eingeführt worden. Es ist dabei sicher nicht daran gedacht, z.B. „Betriebsheilpraktiker" oder ähnliches auszubilden. Die Arbeitgeber oder ihre Vertreter sollen durch Schulungen in die Lage versetzt werden, notwendigen betriebsärztlichen oder sicherheitstechnischen Beratungsbedarf zu erkennen. In diesen Betrieben ist dann die betriebsärztliche oder sicherheitstechnischen Betreuung entsprechend dem Bedarf und in eingeschränktem Umfang vorgeschrieben. Hier ist der Übergang vom „push" zum „pull" in den Regelwerken schon fixiert. Dies System kann aber nur dann eine Verbesserung des Gesundheits- und Arbeitsschutzes für die Arbeitnehmer in den betroffenen Betrieben bringen, wenn die Wahrnehmung eines erkannten Beratungsbedarfs auch entsprechen honoriert oder die Nichtwahrnehmung entsprechend sanktioniert wird. Aus meiner Sicht fehlen bei den gesetzlichen Unfallversicherungen, die das „Unternehmermodell" eingeführt haben, aber entsprechende Regelungen.

Auf der Seite der Führungspersonen (Arbeitgeber) ist das Bewusstsein gewachsen, dass es keine effektiven Kontrollinstanzen im Bereich Gesundheits- und Arbeitsschutz bzw. Unfallverhütung mehr gibt. Die nach dem Arbeitssicherheitsgesetz und den Unfallverhütungsvorschriften vorgeschriebenen innerbetrieblichen oder auch außerbetrieblichen Berater werden deswegen möglichst billig und mit geringst möglicher Qualifikation beschäftigt, damit die direkten und indirekten Kosten in diesem Bereich so gering wie möglich gehalten werden; nur das kurzfristige wirtschaftliche Ergebnis erscheint wichtig. Gesundheits- und Arbeitsschutz wird nur noch dann betrieben, wenn anderenfalls unmittelbar negative Folgen erkennbar sind. Die vermeintliche Richtigkeit der Entscheidung für einen billigen Dienstleister finden die Entscheider dann auch oft durch die Inkompetenz nicht ausreichend weitergebildeter Berater bestätigt. Eine Beratung, die nicht angemessen honoriert wird, kann nicht qualitativ gut sein bzw. auf Dauer bleiben und ist somit auch insgesamt wertlos.

Eigene Abteilungen für die Arbeitssicherheit oder Betriebsärztliche Dienste werden aus Kostengründen zunehmend durch externe Dienste ersetzt, sogenanntes Outsourcing. Die derzeitige Situation bei öffentlichen Arbeitgebern ist die, dass in Verfahren entsprechend der Verdingungsordnung für Leistungen die Anbieter für sicherheitstechnische oder betriebsärztliche Leistungen gesucht werden; in den Unternehmen der freien Wirtschaft kommen ähnliche Verfahren zur Anwendung.

Zur Zeit wird bei derartigen Ausschreibungen im öffentlichen Bereich der Zuschlag regelmäßig den billigsten Anbietern gegeben, ohne dass nachhaltig auf die Einhaltung von Mindeststandards geachtet wird. Bietern wird im Vorfeld der Ausschreibungen deutlich, dass nach Auftragserteilung die vollständige Erfüllung der Verträge nicht eingefordert oder kontrolliert wird; Kontrollen, z.B. durch die Rechnungshöfe, werden in der Regel nicht vereinbart. Stillschweigend wird abgemacht, dass der vertraglich vereinbarte Kostensatz durch den echten Kostensatz des Dienstleisters geteilt und mit dem so ermittelte Faktor von dem Dienstleister die real zu erbringende Leistung ermittelt wird. Durch diese Kostenregelungen wird der betriebsärztliche und sicherheitstechnische Betreuungsumfang minimiert. Verwunderlich ist, dass die Rechnungshöfe gelegentlich die Kostensätze regelrecht arbeitender Dienstleister als unangemessen hoch einschätzen und Ausschreibungen zur Ermittlung der billigsten Anbieter fordern, ohne dass der notwendige Leistungsumfang hinterfragt wird; es ist andererseits bisher noch nicht bekannt geworden, dass sie in ihren Berichten das Fehlen nachprüfbarer Kontrollmechanismen hinsichtlich der regelrechten Erbringung dieser Dienstleistungen bemängeln.

Die Führungskräfte, vor allem im Bereich der öffentlichen Hand, haben es erreicht, dass das „pull-Prinzip" für sie schon seit längerem fast durchgehend eingeführt ist. In vielen Bereichen sind die Betriebsärzte nur noch mit Untersuchungen beschäftigt; zu Betriebsbegehungen oder arbeitsplatzbezogenen Beratungen haben sie keine freien Valenzen. Möglicherweise halten viele Führungspersonen diese Art der Tätigkeit für die beste, weil am wenigsten störende, Form betriebsärztlicher Tätigkeit. Dies alles ist für die verantwortlichen Führungskräfte fast völlig risikofrei; im Schadensfall wird die Suche nach der Ursache regelmäßig im Gestrüpp der Zuständigkeiten unmöglich. Falls doch einmal eine Ursache auszumachen ist, so wirkt im öffentlichen Bereich der Hinweis auf haushaltsrechtliche Gegebenheiten oder politische Entscheidungen.
 
 Der Weg in die Sackgasse

 Die in den Unternehmen häufig anzutreffenden job-hoppelnden Manager sind in der Regel nicht an langfristiger und nachhaltiger Sicherung der Unternehmen und ihrer Mitarbeiter interessiert. Diesem Typus von Führungspersonen ist in den Unternehmen nur derjenige kurzfristige wirtschaftliche Erfolg wichtig, der direkt mit der eigenen Person in Verbindung gebracht werden kann und damit dann die nächsten Abschnitte in der eigenen Karriere- oder Lebensplanung zu erreichen hilft. Kompetente Beratung durch gut aus- und weitergebildete Arbeitsmediziner und Sicherheitsingenieure erscheint diesen Führungspersonen hinsichtlich der eigenen Ziele kontraproduktiv. Zumindest unterbewusst entwickeln sich bei diesen dann Vermeidungsstrategien hinsichtlich kompetenter betriebsärztlicher oder sicherheitstechnischer Beratungen. Zuwiderhandlungen gegen die Normen im betrieblichen Arbeitsschutz, die dem Schutz des Einzelnen dienen, erscheinen zulässig, wenn dadurch die betriebswirtschaftlichen und unter anderen Gesichtspunkten als wichtiger eingestufte Ziele gefördert werden. Die Regelungen und Vorschriften zum Gesundheits- und Arbeitsschutz sollen in den Augen dieser Führungspersonen in der Regel zwar respektiert werden, aber doch nicht dann, wenn Zuwiderhandlungen für die eigene Person und für das Unternehmen weitgehend folgenlos erscheinen!

Es ist heute teilweise in den Unternehmen üblich geworden, dass den Fachkräften für Arbeitssicherheit oder Betriebsärzten deutlich gemacht wird, dass sie gefälligst keine Problembereiche sehen oder suchen; Beratung zum Arbeits- oder Gesundheitsschutz wird nicht gewünscht. Es wird häufig verdeckt und teilweise auch offen mit dem Verlust des Auftrages oder des Arbeitsplatzes gedroht, falls diesem Wunsch nicht entsprochen wird. Entsprechend den Regeln des Marktes haben die Auftragnehmer für die betriebsärztliche und sicherheitstechnische Betreuung der Betriebe sich diesen Forderungen der Auftraggeber in weiten Bereichen angepasst.

Am Markt sind genügend Anbieter im Bereich Arbeitssicherheit und Arbeitsmedizin, die für wenig Geld diese Dienstleistung in Alibiform anbieten. Ärztliche Tätigkeit und sicherheitstechnische Beratung wird von diesen rein nach dem Prinzip der Ergebnisoptimierung vermarktet. Da gegenüber den gesetzlichen Unfallversicherungen nur eine Nachweispflicht über die Beauftragung von Betriebsärzten oder Fachkräften für Arbeitssicherheit besteht, gleicht das von diesen Anbietern abgedeckte Marktsegment mittlerweile einem überdimensional aufgeblähten "Ablasshandel". Vielfach haben sich auch schon als Dienstleister getarnte Agenturen etabliert; diese halten kein eigenes Personal und keine Infrastruktur vor und geben die Aufträge direkt an Subunternehmer weiter. Auch die arbeitsmedizinischen Dienste einzelner Unfallversicherungen vermitteln mehr den Eindruck einer Agentur und nicht den eines kompetent ausgestatteten Dienstleisters.

Jedem Kaufmann sind die randständig legalen und auch die nicht mehr zulässigen Wege zur Gewinnmaximierung bei enger werdenden Märkten bekannt. Dementsprechend wurden diese Wege auch im Bereich der betriebsärztlichen und sicherheitstechnischen Betreuung betreten. Anfangs wurde die Qualität der Infrastruktur und die Menge an vorgehaltener Arbeitszeit ausreichend qualifizierter Mitarbeiter, die zur Abarbeitung der regelrechten Beratungsaufgaben notwendig sind, noch im unteren Grenzbereich vorgehalten. Unterschreitungen dieser Grenzen kamen vor und es wurde von den Dienstleistern bemerkt, dass keine Sanktionen folgten. In der Folge wurde dann regelmäßig von einer immer größer werdenden Zahl von innerbetrieblichen und externen Dienstleistern mit nicht ausreichender Infrastruktur und einer Unterdeckung an vorgehaltener Arbeitszeit für die vorgeschriebene bzw. vertraglich vereinbarte Beratungsaufgabe kalkuliert und gearbeitet. Zum Beispiel müßten bei einigen überbetrieblichen und betrieblichen Diensten die Sicherheitsingenieure und Betriebsärzte zur Ableistung der vertraglich vereinbarten Einsatzzeiten Jahresarbeitszeiten von über 3.000 Stunden erbringen (Spitzenwerte von etwa 3500 Stunden werden auch genannt). Der Phantasie werden hier durch die Auftraggeber und die Aufsichtsinstitutionen gegenwärtig keine Grenzen gesetzt.

Die vertraglichen Regelungen im betriebsärztlichen Bereich werden häufig so abgefasst, dass Einsatzzeiten im Zusammenhang mit Untersuchungen rechnerisch erfasst werden. Diese pauschalierten Einsatzzeiten für Untersuchungen sind dann in der Regel so großzügig bemessen, dass es für die Ärzte ohne Probleme möglich ist, im Zusammenhang mit den Untersuchungen interne Zeitguthaben zu erwirtschaften. Mit einer zunehmenden Anzahl von Untersuchungen verringert sich dann die ärztliche Arbeitszeit, die ein Dienstleister zum „Erfüllen" des Vertrages vorrätig halten muß; mit einer steigenden Anzahl von Untersuchungen verbessert sich dann für diesen auch das wirtschaftliche Ergebnis. Bei einzelnen Dienstleistern für die betriebsärztliche Betreuung sind für die Ärzte schon Bonusregelungen entsprechend der Anzahl der durchgeführten Untersuchungen eingeführt und bei anderen in der Vorbereitung bzw. Planung. Es ergibt sich damit für die betreuenden Betriebsärzte die Situation, dass es für sie persönlich günstiger ist, hin zu mehr Untersuchungen zu beraten. Gute betriebsärztliche Beratung soll aber in den Betrieben zu einer Verminderung der Gefährdungen und damit zu einer Verminderung notwendiger spezieller Vorsorgeuntersuchungen führen.

Bei einigen Dienstleistern wird den Betriebsärzten und Fachkräften für Arbeitssicherheit ein Abrechnungsfaktor von >1,5 vorgegeben; diese Mitarbeiter sollen dann in einer Stunde Arbeitszeit mindestens 1,5 Stunden mit dem Auftraggeber abzurechnende Einsatzzeit erbringen. Gehaltsanpassungen werden bei diesen Dienstleistern dann in dem Umfang gewährt, wie der persönliche Abrechnungsfaktor den Wert von 1,5 übersteigt. Ein renommierter Dienstleister, dessen Ärzte und Sicherheitsingenieure bisher für eine gute Erfüllung der Beratungsaufgaben bekannt waren, soll in Folge dieser Regelung neuerdings mit jährlich zu erbringenden Einsatzzeiten von 2400 Stunden je Arzt oder Sicherheitsingenieur kalkulieren. Wie aus amerikanischen Kriminalromanen für die Tätigkeit von Anwälten bekannt, wird dann regelmäßig die Abrechnung der geleisteten Arbeitszeit für die einzelnen Kunden manipuliert, großzügig gerundet, pauschaliert oder auch „rechnerisch" erfasst.
 

Dies sind die von Billiganbietern für die sicherheitstechnische und betriebsärztliche Dienstleistung hauptsächlich eingeschlagenen Wege, um die vom Markt geforderte Preisgestaltung zu ermöglichen. Zusätzlich ersetzen „Rechnerische Einsatzzeiten", „rechnerisch ermittelte Leistungsstunden" oder errechnete Einsatzzeiten teilweise die real geleisteten Einsatzzeiten in den Verträgen und in den Nachweisen für die Betreuungstätigkeiten. Eine Berufsgenossenschaft mit eigenem arbeitsmedizinischem Dienst berechnet ihren Mitgliedern die Kosten für die betriebsärztliche Betreuung nach rechnerisch ermittelten „Leistungsstunden", obwohl entsprechend der eigenen Unfallverhütungsvorschrift ein „Betreuungsbedarf in Stunden pro Jahr" errechnet werden soll. Der Vergleich der Kosten für eine „Leistungsstunde" mit dem Honorarsatz, der von diesem arbeitsmedizinischen Dienst an externe Dienstleister gezahlt wird, läßt vermuten, dass eine „Leistungsstunde" etwa 30 Minuten Betreuungsbedarf entspricht.
Eine Variante für die betriebsärztliche Betreuung, die auch erwähnt werden muß, besteht in der Verpflichtung niedergelassener Vertragsärzte („Kassenärzte") mit entsprechender Fachkunde oder der Zusatzbezeichnung Betriebsmedizin. Mit Verabschiedung des Arbeitsicherheitsgesetzes und der Notwendigkeit in größerem Umfang die Betriebe betriebsärztlich betreuen zu müssen, wurde für niedergelassenen Vertragsärzte und auch andere Ärzte die Möglichkeit geschaffen, nach Erwerb einer Fachkundebescheinigung als Betriebsärzte tätig zu werden. In diesem Kreis nebenberuflich tätigen Betriebsärzte sind viele mit der Zeit durch gezielte Fortbildung zu hervorragend wirksamen Betriebsärzten geworden. Es ist aber auch zu beobachten, dass es unter diesen Ärzten verbreitet war und teilweise auch noch ist, die vertragsärztliche Praxis während der Anwesenheit im Betrieb weiter zu führen. Dies kann aus betrieblicher Sicht dann als intensive Form einer Gesundheitsförderung aufgefasst werden; zum betrieblichen Gesundheitsschutz aber trägt eine derartige Form betriebsärztlicher Tätigkeit wenig bei. Bei betrieblichen Führungskräften war und ist eine derartige Form betriebsärztlicher Tätigkeit teilweise sehr beliebt, da „Störungen" der betrieblichen Entscheidungen von diesen Ärzten nicht zu erwarten sind. Die bei dieser Form der betriebsärztlichen Tätigkeit mögliche „Mischkalkulation" führt zu Kostensätzen, die weit unter denen von regelrecht arbeitenden Dienstleistern liegen. Hier läßt sich leicht ein „Verdünnungsfaktor" gegenüber der regelrechten betriebsärztlichen Betreuungsarbeit berechnen und es ist deutlich erkennbar, dass diese Ärzte nicht ausreichend Möglichkeiten haben, um aktiv Gedanken zum Gesundheitsschutz in die Betriebe hineinzutragen.

Die Auftraggeber und die Auftragnehmer für die betriebsärztliche und sicherheitstechnische Betreuung haben derzeit häufig unterschiedliche Zielsetzungen und zumeist auch divergierende Auffassungen über den Wert dieser Dienstleistungen. Entsprechend der allgemein üblichen Regelung , dass „wer die Musik bezahlt auch bestimmt, was gespielt wird", ist die Rollenverteilung bei der Auftragsvergabe für diese Dienstleistungen vorgegeben. Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit bzw. die entsprechenden überbetrieblichen Dienste können zumeist nur den Forderungen der Auftraggeber folgen, wenn sie wirtschaftlich überleben wollen. Das Ausmaß dieser Entwicklung wurde in einer kürzlich vorgestellten von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin in Auftrag gegebenen Studie deutlich; dort wurde ermittelt, dass summarisch in Deutschland etwa ein Drittel der zur Zeit verpflichtend vorgeschriebenen Einsatzzeiten für die betriebsärztliche Betreuungsarbeit nicht erbracht wird. Ohne Änderung bei den Rahmenbedingungen werden diese Betreuungsaufgaben in absehbarer Zeit in der entstandenen „Sackgasse" festgefahren sein.

 Der Weg aus der Sackgasse

 Die staatliche oder berufgenossenschaftliche Kontrolle kann auf absehbare Zeit sicher nicht in dem Umfang wiederbelebt werden, wie es notwendig ist, um den betrieblichen Gesundheits- und Arbeitsschutz nach dem „push-Prinzip" zu regeln. Die Abkehr von dem „push-Prinzip" bei der staatlichen und berufgenossenschaftlichen Durchsetzung der Vorschriften zum Gesundheits- und Arbeitsschutz und der schleichende, zum Teil auch schon vollständig vollzogene Ersatz durch das „pull-Prinzip", muß zur Sicherung eines angemessenen Gesundheits- und Arbeitsschutzes von Änderungen im Regelwerk begleitet werden.

Die personelle und apparative Ausstattung eigener betriebsärztlicher oder sicherheitstechnischer Abteilungen ist nachprüfbar; die Struktur externer Dienste ist in der Regel nicht beurteilbar und mit zunehmender Größe werden diese überbetrieblichen Dienste unübersichtlicher und haben damit vermehrt Möglichkeiten zur Verschleierung der eigenen Strukturen. Auch Seriosität vermittelnde Namen großer und überregional tätiger Anbieter für diese Dienstleistungen bieten keine Gewähr für eine jederzeit qualitativ und quantitativ ausreichende bzw. regelrechte Betreuung. Mit zunehmendem seriösen Habitus eines Dienstleisters vermindert sich die Motivation der Kunden, die erbrachte Dienstleistung zu hinterfragen; in dem gleichen Maß erleichtert sich für den Dienstleister auch die Möglichkeit, die Dienstleistung unbemerkt in ausgedünnter Form zu erbringen. Deswegen sollten zukünftig für die Anbieter sicherheitstechnischer und betriebsärztlicher Betreuung haftungsrechtliche und strafrechtliche Konsequenzen möglich und üblich sein, wenn die Qualität und der Umfang der Beratung nicht nachprüfbar abgesichert wird. Der Nachweis einer Zertifizierung eines Qualitätssicherungssystems nach einer Norm aus der ISO-9000-Familie in der heutigen Form ist hierfür sicher nicht ausreichend bzw. brauchbar; in der Norm selbst ist nachzulesen, dass die Einhaltungen der Normen zum Qualitätsmanagement kein direkter Nachweis für die Erfüllung der Qualitätsforderungen durch das Angebotsprodukt sind.

Einen Anhalt für die Seriosität von Anbietern für die betriebsärztliche oder sicherheitstechnische Betreuung können Kunden zukünftig auf anderem Weg erhalten. Der Verband Deutscher Sicherheitsingenieure e.V. (VDSI) und der Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte e.V. (VDBW) haben entsprechend einem Vorschlag aus dem Bundesarbeitsministerium Gütegemeinschaften gebildet und es werden nach fachkundiger Prüfung Gütesiegel an die Anbieter vergeben, die nachgewiesen eine regelrechte Betreuung der Betriebe durchführen und anbieten. Die Gütekriterien werden in den jeweiligen Beiräten mit den maßgeblichen Institutionen abgestimmt.

Seitens der gesetzlichen Unfallversicherungen könnte in einem ersten Schritt mit straffer formulierten und weniger interpretierbaren Unfallverhütungsvorschriften ein entscheidender Beitrag zur Verbesserung der Situation geleistet werden. Mehr Klarheit mit weniger Möglichkeit zur Interpretation und Manipulation könnte z.B. durch eine vollständige Herausnahme der Untersuchungstätigkeiten aus den Mindesteinsatzzeiten für die Betriebsärzte gewonnen werden; bei einigen Berufsgenossenschaften ist dieser Weg schon eingeschlagen worden. Eine weitere Möglichkeit zur Verbesserung der Beratungsqualität könnte auch darin bestehen, in den Unfallverhütungsvorschriften die Mindesteinsatzzeiten nach der Qualifikation der Berater zu staffeln. Denkbar wären z.B. Zeitzuschläge von 30% bei einem Sicherheitsmeister gegenüber einem Sicherheitsingenieur oder im betriebsärztlichen Bereich bei einem Arzt mit Fachkundebescheinigung oder einem Weiterbildungsassistenten gegenüber einem Facharzt für Arbeitsmedizin.

Gütesiegel und Veränderung der Unfallverhütungsvorschriften können nur teilweise zu einer Verbesserung der Situation führen. Durch den gesetzlichen Rahmen muß in den Unternehmen ein Anreiz zum effektiven Gesundheits- und Arbeitsschutz gegeben werden. Es muß ein ausgeglichenes Verhältnis von auch finanziellen Anreizen einerseits und Durchsetzungsmaßnahmen andererseits zu Einhaltung der entsprechenden Rechtsvorschriften und Normen geschaffen werden. Eine erfolgreiche Präventionspraxis in den Betrieben muß stimuliert und honoriert werden. Entsprechend den Erkenntnissen aus der Organisationspsychologie und -soziologie, der Sozialpsychologie und nicht zuletzt der Betriebswirtschaft, sollten die Möglichkeiten zur Anpassung des Systems diskutiert werden.

Zum Schutz von Leben und Gesundheit der Arbeitnehmer müssen auch neue Wege gesucht werden, um den betrieblichen Gesundheits- und Arbeitsschutz im notwendigen Umfang zu aktivieren. In einer Zeit, in der das wirtschaftliche Ergebnis und damit der Wert des jeweiligen Unternehmens das wichtigste Ziel ist, kann doch eigentlich nur hier ein effektiver Ansatz gesehen werden. Betriebe, in denen entweder fahrlässig, durch Unterlassung oder in Folge von Organisationsmängeln Arbeitnehmer zu Schaden kommen, müssen zukünftig mit wirtschaftlich merkbaren Sanktionen belegt werden. Strafrechtliche Sanktionen müssen regelmäßig auch die verantwortlichen Führungskräfte treffen können.

Eine weitere Möglichkeit wäre, geschädigten Arbeitnehmern neben der sozialen Absicherung durch die gesetzlichen Unfallversicherungen die Möglichkeit für eine weitergehende Entschädigung zu bieten. Es sollte dann möglich sein, dass Arbeitnehmer gegenüber den Unternehmen oder deren Führungskräften gegebenenfalls zivilrechtliche Ansprüche durchsetzen können. In den Unternehmen würden die negativen Folgen eines mangelhaften Gesundheits- und Arbeitsschutzes dann direkt und deutlich merkbar.

Betriebsinhaber und Geschäftsführungen müßten auch nach dem Ausscheiden aus den entsprechenden Unternehmen noch zur Verantwortung gezogen werden können! Es sollte eine Umkehrung der Beweispflicht in der Art erfolgen, dass im Schadensfall die Führungspersonen im öffentlichen Bereich, die Betriebsinhaber oder die Geschäftsführungen nachweisen müssen, dass z.B. kein Organisationsverschulden vorliegt und dass eine ausreichende Beratung zum Arbeits- und Gesundheitsschutz gesucht wurde. Eine mangelhafte Wahrnehmung der Beratungsaufgabe durch den jeweiligen Dienstleister sollte auch entsprechend straf- und haftungsrechtlich gewertet werden.

Zusätzlich können die gesetzlichen Unfallversicherungen ihre Umlagen so gestalten, dass Schadensfälle erkennbar und nachhaltig in angemessener Höhe auf die betroffenen Betriebe durchgreifen. Beispielhaft können hier die Schadenfreiheitsrabatte der Autoversicherer herangezogen werden. Die Größenordnung derartiger Regelungen sollte deutlich über der Schwankungsbreite bei der Lohnfortzahlung liegen; bei extremer Anhäufung von Schadensfällen in einem Betrieb erscheint mir ein Malus, der etwa 10% der jeweiligen Lohnsumme beträgt, angemessen. Im Bereich der ökonomischen Verhaltenstheorie sind sicher ausreichend Ansätze vorhanden, um einen wirksamen Bereich für einen derartigen Malus zu finden. Einen Hinweis auf die Wirksamkeit eines derartigen Systems kann ein Vergleich der Summen aus Beitragszuschlägen und Beitragnachlässen in Prozent vom Umlagesoll bei den verschiedenen gewerblichen Berufsgenossenschaften mit der Anzahl jeweils gemeldeten Arbeitsunfälle, bezogen auf die Arbeitsstunden, geben.

Die bei einigen gesetzlichen Unfallversicherungen angedachten Rabattierungen bei der Umlage für die Einführung von Arbeitsschutzmanagementsystemen erscheinen mir nicht zielgerecht. Nicht ein kodifiziertes Arbeitsschutzmanagementsystem, sondern die in einem Betrieb gelebte Einstellung zum Gesundheits- und Arbeitsschutz ist entscheidend für die Vermeidung der entsprechenden Schäden. Eine merkbare Anpassung der Umlagen an die jeweiligen Kosten für Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten sollte aus anderer Richtung ein ausreichendes Stimulans für die Einführung dann auch wirksamer Arbeitsschutzmanagementsysteme sein.

Erst wenn für die Führungskräfte der persönliche Schaden eines verunfallten oder erkrankten Mitarbeiters zum merkbaren Risiko und Kostenfaktor wird oder werden kann, wird diesen notgedrungen wieder ihre Verantwortung für Leib und Leben der Mitarbeiter deutlich ins Gesichtsfeld gerückt; dies wird insbesondere dann geschehen, wenn die jeweiligen Betriebsinhaber oder Geschäftsführungen persönlich auch noch nach dem Ausscheiden aus dem jeweiligen Unternehmen zur Verantwortung zu ziehen sind. Natürlich gilt dies auch für Führungskräfte im Bereich der öffentlichen Verwaltungen und der Tendenzbetriebe.

In den Unfallverhütungsvorschriften sind überwiegend feste „Mindesteinsatzzeiten" je beschäftigtem Arbeitnehmer für die Tätigkeiten der Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit definiert. Die Festsetzung dieser festen „Mindesteinsatzzeiten" zur betriebsärztlichen und sicherheitstechnischen Betreuung der Unternehmen ist in den letzten Jahren zunehmend in die Kritik geraten und scheint bei der Betreuung von Klein- und Mittelbetrieben teilweise unangemessen zu sein. In weiten Bereichen bieten sie aber einen guten Anhalt für den notwendigen Beratungsumfang in den Betrieben. Die Angemessenheit dieser „Mindesteinsatzzeiten" wird immer auch in Abhängigkeit von der jeweils erlebten Beratung beurteilt. Mit zunehmender Kompetenz der Berater steigt auch die Akzeptanz für die Beratung und damit auch für den damit verbundenen Zeitaufwand und die damit verbundenen Kosten. Anders herum gesagt: Bei einer inkompetenten Beratung wird diese auch schon in ihrer geringsten Ausprägung als überflüssig und störend oder auch als kontraproduktiv empfunden. Die Verpflichtung zur Beauftragung eines Betriebsarztes wird unter diesen Bedingungen nicht als Bedarf empfunden und trifft damit auf Ablehnung.

Bei einer ausreichend wirksamen Kontrolle der Effizienz betrieblicher Systeme zum Gesundheits- und Arbeitsschutz durch haftungsrechtliche Regelungen sind aus meiner Sicht feste Vorgaben hinsichtlich der betriebsärztlichen und sicherheitstechnischen Betreuung der Unternehmen verzichtbar und könnten durch Richtgrößen ersetzt werden. Die verantwortlichen Führungskräfte könnten dann entsprechend ihrer Risikoeinschätzung den eigenen Beratungs- und Betreuungsbedarf ermitteln. Wenn die internen und externen Berater bzw. Dienstleister dann auch dafür haftbar zu machen sind, dass die Beratung in ausreichendem Umfang erfolgt, werden sich sicher die notwendigen Strukturen für eine sach- und zielgerechte betriebsärztliche und sicherheitstechnische Betreuung der Betriebe am Markt herausbilden. Der Betreuungsumfang für Betriebsärzte und Sicherheitsingenieure müsste dann in den Regelwerken nicht mehr akribisch bis hin zur letzten Eventualität verpflichtend geregelt werden.

Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit müssen sich gedanklich und im erkennbaren Handeln deutlich von dem Bild wegbewegen, sie seien Erfüllungsgehilfen von Gewerbeaufsicht oder gesetzlicher Unfallversicherung. Sie müssen gegenüber den Führungskräften deutlich betonen, dass die betriebsärztliche und sicherheitstechnische Beratung der nachhaltigen Sicherung der Unternehmensziele dient. Nicht die Suche nach Defiziten in der Umsetzung staatlicher oder berufgenossenschaftlicher Vorschriften zum Gesundheits- und Arbeitsschutz ist die zentrale Aufgabe oder Kernkompetenz dieser Berater, sondern die Beratung aller Beteiligten hin zu einer verbesserten Produktivität unter Beachtung der gesundheitlichen Belange der Mitarbeiter. Die Beratung der für den Gesundheits- und Arbeitsschutz verantwortlichen Führungspersonen sollte mehr meinungsbildend und weniger vorgebend bzw. fordernd sein.

Die Betriebsärzte müssen sich auf mehr vorwärtsgerichtete Inhalte konzentrieren und sich in die Planung des Zukünftigen einbringen und nicht überwiegend Bestehendes kritisieren. Untersuchungen im betriebsärztlichen Bereich sollten weniger als „Vorsorgeuntersuchungen" zum Erkennen und Verhüten berufsbedingter Erkrankungen sondern mehr als Mittel zur Ermittlung der individuellen „Leistungsbilder" ausgebildet sein, damit vermehrt im Sinne einer individuellen Gesundheitsförderung und hinsichtlich der derzeitigen und der zukünftigen beruflicher Tätigkeit beraten werden kann,

Tut Veränderung Not?

Die hier dargestellten Vorschläge führen nicht mehr zu einer grundlegenden Systemveränderung; das System des betrieblichen Gesundheits- und Arbeitsschutzes hat sich in den letzten Jahren schon einschneidend verändert. Die möglichen Folgen für den Einzelnen aus einem nicht ausreichenden betrieblichen Gesundheits- und Arbeitsschutz stehen nicht mehr in einem ausgewogenen Verhältnis zu den möglichen rechtlichen und ökonomischen Folgen für die Verantwortlichen oder die Verursacher. Die Ausgestaltung und Überwachung der Normen zum betrieblichen Gesundheits- und Arbeitsschutz müssen jetzt entsprechend den stattgefundenen Entwicklungen angepasst werden, damit zukünftig Gesundheit und Sicherheit des Einzelnen an seinem Arbeitsplatz wieder nachhaltig gewährleistet sind.

Ein Weniger an staatlicher Regelung führt nach meiner Überzeugung nachhaltig zu einem Mehr an Schutz für den Einzelnen an seinem Arbeitsplatz, wenn die vergrößerten Entscheidungsspielräume mit einer angemessenen Risikoanpassung für die Betriebe und auch persönlich bei den Führungspersonen verbunden sind.
 
Literatur:
 
1. Arbeitssicherheit `98 Unfallverhütungsbericht Arbeit - Bericht der Bundesregierung über den Stand der Unfallverhütung und das Unfallgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1997 Herausgeber: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung
 

2. Geschäfts- und Rechnungsergebnisse der gewerblichen Berufsgenossenschaften 97
Herausgeber: Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften
 

3. Kommunikation beim Workshop
„Betriebsärztliche Betreuung im Wandel"
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
10./11. Dezember 1999 in Erkner

 
 

Anschrift des Verfassers:

Dr.med. Jürgen M. Jancik
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